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Die Entstehung: Wie das Hospiz nach Holzminden kam

Eine Entstehungsgeschichte von Heinrich-Alfred Höfer

Mit "Hospiz" meine ich hier eine Gruppe von Frauen und Männern, die sich für einen menschlichen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer einsetzen. Sie lassen sich in Familien, Altenpflegeheime, Krankenhäuser rufen. Sie beraten, leisten auf Wunsch Beistand, tragen mit, reden von dem, was sie selbst trägt, wenn sie danach gefragt werden.

April 2009: Beim Abendessen fragt mich Enkelin Anna unvermittelt: "Was wäre das Schlimmste, das in unserer Familie passieren könnte?" "Dass jemand stirbt," antworte ich ohne langes Nachdenken. Anna schaut mich verständnislos an: "Ich dachte an einen Unfall oder dass das Haus abbrennt. Dass jemand stirbt, ist doch ganz normal." So die Zwölfjährige.

Juni 1998: Seit fast einem Jahr bin ich als Pastor Krankenhausseelsorger in Holzminden und Stadtoldendorf. Ich betrete eine Station und bemerke eine auffällige Unruhe. Ein Patient ist plötzlich gestorben. Angehörige sind zu ihm unterwegs. Man hatte sie telefonisch nicht mehr erreichen können, bevor sie zum Krankenhaus aufbrachen. Also wussten sie noch nichts. Ob ich auf dem Flur warten könne, um zugegen zu sein, wenn sie einträfen? Sicher; ich spüre die wachsende Anspannung in mir. Rasch wird das Bett mit dem Verstorbenen aus dem Vierbettzimmer geschoben. Wohin damit? Es ist kein Einzelzimmer frei. Also in den Abstellraum. Sonst ist kein Platz. Der Tote auf seinem Sterbelager, mit weißen Laken zugedeckt, hineingeschoben in einen Raum zwischen ordentlich aufgeschichteten Windelpaketen, Infusionsständern, Rollstühlen, Wasserkisten.  Ein kleines Fenster zum  Hinterhof. Auf meine Anregung bringen Schwestern in wenigen Minuten das Kunststück fertig, diese Szenerie mit sauberen weißen Bettlaken zu verhängen. An der Tür bringen sie ein Schild an: "Nicht eintreten!" In dem engen Raum ist kein Platz für Stühle. Wir stehen um den Toten herum. Ein schlichtes Kreuz ist aufgestellt. Daneben brennt eine Kerze. Nur gedämpft dringen die Geräusche vom Stationsflur in die weiße Stille, als ich das Vaterunser und den Abschiedssegen spreche. Dann doch ein würdiger Abschied, wenn auch improvisiert.

Vom Beginn meiner Krankenhausseelsorger-Tätigkeit an fiel mir eine Unsicherheit im Umgang mit Sterbenden, Toten, Trauernden auf. Sterben schien doch eben "nicht selbstverständlich", sondern ein ärgerlicher Zwischenfall. Und ich war ja selber unsicher und zuweilen hilflos. Die erlernten Rituale gaben mir ein Rüstzeug. Doch das Meiste und Wertvollste aus diesen bewegten Jahren habe ich von Sterbenden und Trauernden selbst gelernt: Das Sich-einlassen in das Unabänderliche, schließlich das Loslassen und ein Urvertrauen in das Leben und das sie tragenden Kräfte.

Es war beglückend, Menschen zuzuhören, die von ihren Erlebnissen erzählten, schrecklichen und schönen. Dass wir den natürlichen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer verloren haben, war ihnen und mir klar. Deshalb waren wir von dem starken Wunsch bewegt, in diesem ganzen Umfeld etwas ändern zu wollen. Das hieß: zuerst bei sich selbst. Nicht verdrängen, sondern wahrnehmen, zulassen, sich gegenseitig stützen, "abschiedlich" leben. Fachliteratur gab es reichlich. Wir lasen und gaben Gelesenes weiter. Vor allem aber gab der Besuch von Hospiz-Seminaren, etwa in der Evangelischen Akademie Loccum wichtige Impulse.

Und dann fand sich eine kleine Gruppe zusammen, die sich "Hospizinitiative" nannte. Es gab zunächst monatliche Treffen. Man tauschte Erfahrungen aus und überlegte, was in der Region Holzminden entwickelt werden könne. Benachbarte Regionen hatten schon Hospizvereine. In Bad Pyrmont und Göttingen gab es zudem stationäre Hospize. Gemeinsame Besuche dort brachten weitere Hinweise: Worauf kommt es an? Welche Fehler wurden gemacht und galt es zu verhindern? Und dann kam die Woche für das Leben 1996. Sie hatte die Uberschrift: "Leben bis zuletzt - Sterben ein Teil des Lebens".

Die lnitiativgruppe lud unter meiner Leitung zu einem öffentlichen Abend in den "Grünen Saal" des Evangelischen Krankenhauses ein. Unerwartet viele Teilneh-merinnen und Teilnehmer kamen. Der letzte Stuhl wurde von irgendwo her herbei getragen. Die Türen mussten offen stehen bleiben. An diesem Abend war für mich spürbar, dass die Hospizbewegung längst an der Weser angekommen war. - Ich wollte den Abend schließen, da fragte eine Teilnehmerin: "So, wie geht es denn nun weiter?"

Das war eine entscheidende Weichenstellung. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmerblieben im Saal. Unmittelbar nach der Veranstaltung wurde der Initlaikreis erweitert. Bald schon begannen einzelne aus diesem  Kreis mit ihrer aktiven Tätigkeit in Sterbezimmern in privaten Wohnungen, Altenpflegeheimen und den beiden Krankenhäusern. Ich organisierte eine umfassende Schulung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nach dem Celler Modell "Sterbende begleiten lernen". Aus dieser Fortbildung gingen Hospizler hervor, die bis heute dabei sind und sich in ihrer freien Zeit ehrenamtlich einsetzen. Die Krankenhäuser haben längst würdige Abschiedszimmer und Palliativeinheiten. Eine um ihre in Holzminden sterbende Mutter besorgte (einzige) Tochter, als Geschäftsfrau in Hongkong lebend, hatte (1998) im Internet recherchiert, ob es in Holzminden ein Hospiz gäbe - und sie wurde fündig. Wir konnten abwechselnd bei der Mutter sein, bis die Tochter nach Tagen endlich in Holzminden eintraf und die noch lebende und wache Mutter umarmen konnte. Das Heranwachsen des ambulanten Hospizes in Holzminden stellte sich mir als eine wunderbare Geschichte dar, die mich dankbar stimmt.

Allen Beteiligten wurde bald klar, dass wir einen eingetragenen und unabhängigen Trägerverein brauchten.  Der  wurde  im Februar 1999 gegründet, ebenfalls im "Grünen Saal". Möge er weiter wachsen und seine segensreiche Arbeit weiter tun!

"Dass jemand stirbt, ist doch ganz normal" - so hatte mich Anna, ohne es zu wissen, an die Woche des Lebens 1996 erinnert. Mir scheint, viele Menschen 2009 sehen das immer noch nicht so. Ich vergesse das manchmal auch. Aber zum Glück gibt es Frauen, Männer und Kinder in ihrer unverbildeten Natürlichkeit, die uns daran erinnern und entsprechend einsetzen.

Quelle: Heinrich - Alfred Höfer, Holzminden 2009, Jubiläumsheft - 10 Jahre Hospiz-Verein Region Holzminden e.V.